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Bach: Weihnachtsoratorium-Neueinspielung aus Sankt Gallen

Verantwortlicher Autor: Dr. Bernd Strecker Bad Schönborn, 24.01.2021, 20:37 Uhr
Fachartikel: +++ Kunst, Kultur und Musik +++ Bericht 8590x gelesen

Bad Schönborn [ENA] Diese Musik Bachs, 1734-35 entstanden und erstmalig aufgeführt, gehört auch heute noch zum festen Bestandteil der hohen kirchlichen Feiertage. Und dies nach nahezu drei Jahrhunderten! Nicht nur professionelle Chöre und Orchester sondern auch Laien führen das Weihnachtsoratorium, oder Teile davon, jedes Jahr an den unterschiedlichsten Orten weltweit auf. Auch die Rundfunksender spielen eine wichtige Rolle.

Während dieser Zeit bringen sie, vor allen Dingen in Deutschland, immer wieder unterschiedliche Aufnahmen zu Gehör, seien sie historisch oder hoch aktuell. Dazu kommen noch TV-Aufzeichnungen. Insgesamt ergibt sich so eine fast kaum zu übersehende Anzahl auf dem Markt oder in den unterschiedlichen Archiven, wobei letztere leider nicht für jedermann zugänglich sind. Alle Bereiche bilden zusammen einen enormen Fundus und könnten somit auch die Grundlage für eine differenzierte Rezeptionsanalyse der Bach Musik sein. Diese soll hier jedoch nicht gegeben werden.

Vielmehr geht es um einige wichtige Kriterien, die uns beim jeweiligen Hören aufgefallen sind und die Qualität der einzelnen Aufnahmen insgesamt angehen. Sicherlich werden sich dabei auch individuelle Vorlieben des Autors, etwa bei der Auswahl der Sängerinnen und Sänger, einfügen, die - so hoffen wir - letztendlich aber das Gesamtergebnis der Einschätzung nicht über Gebühr verfälschen. Die sich daraus ergebenden Hinweise mögen vielmehr dem musikinteressierten Liebhaber bei seiner Auswahl eine vielleicht helfende Unterstützung an die Hand geben.

Einer der aktuellsten Gesamtaufnahmen des Weihnachtsoratoriums, nämlich die Kantaten 1-6, hat jetzt die J. S. Bach-Stiftung in St. Gallen unter der Leitung von Rudolf Lutz vorgelegt. „Die J. S. Bach-Stiftung ist eine im Jahr 1999 gegründete Schweizer Stiftung mit Sitz in Sankt Gallen. Sie realisiert die Aufführung und Dokumentation des gesamten Vokalwerks von Johann Sebastian Bach mit Rudolf Lutz als künstlerischem Leiter.“ (Wikipedia). Die gesamte Aufnahme wurde im vergangenen Jahr am 25. Dezember 2020, 20:04 Uhr ff im Hessischen Rundfunk 2 (hr2) gesendet. Teile davon, nämlich die Kantaten 1-3, waren bereits am selben Tag im Westdeutschen Rundfunk 3 (WDR3) ab 16:04 Uhr zu hören.

Chor und Orchester der J. S. Bach-Stiftung haben zusammen mit den Solisten wie auch den Technikern eine einzigartige, brillante Aufnahme geschaffen. Sie beinhaltet einerseits eine in sich geschlossene Einheit, und andererseits wurden die sechs Kantaten des Oratoriums in ihrer individuellen Struktur und ihren fortschreitenden wie auch kontemplativen Inhalten musikalisch ungemein klar ausgeleuchtet und überzeugend dargestellt. Zeitweilig hat man sogar den Eindruck, es handele sich hier um eine differenzierte Kammermusik.

Diese geglückte Zusammenschau zweier sich musikalisch ergänzender Aspekte ist sicherlich das Verdienst des Dirigenten Rudolf Lutz und weiterhin auch insofern interessant, als es von Bach selbst keinen speziellen Hinweis eines einheitlichen Gesamtkonzeptes für sein Weihnachtsoratorium gibt. Außerdem sind - unseres Wissens zum ersten Mal überhaupt - in den 6 Kantaten die Gesangssolisten nicht durchgehend dieselben. Wir glauben nicht, dass dies finanzielle oder terminliche Gründe hat, sondern sehen darin eher einen zusätzlichen, triftigen Anlass des Dirigenten, weitere musikalische Differenzierungen durchzuführen.

Kompositorisch und auch, was die Interpretation des Werkes angeht, bildet die vierte Kantate für uns einen der ganz großen Höhepunkte. Wir sind der Auffassung, dass es sich hier - beidseitig - um einen einzigartigen Akt vollkommen entschlackter Innerlichkeit handelt. Daran hat, so meinen wir, besonders auch die Sopranistin Miriam Feuersinger zum Beispiel in der berühmten Echo-Arie „Flößt, mein Heiland, flößt dein Namen ...“ einen wesentlichen Anteil. Hinzu kommt die verhaltene, aber doch stets ordnende Hand des Dirigenten.

Strukturell bildet die 4. Kantate zunächst ein Innehalten und ein weiterführendes Meditieren über die Glaubensinhalte der drei vorangegangen Kantaten. Der beginnende, ruhig dahinfließende Chor von Kantate 4 „Fallt mit Danken, fallt mit Loben ...“ steht in scharfem Kontrast zu den jeweils wuchtigen Anfangs- (und End-) Chören von Kantate 1-3. Ersterer unterstreicht damit die meditative Atmosphäre dieser neuen Einheit.

Zudem ist in der 4. Kantate der Auftritt des Evangelisten, der von der Heilsgeschichte berichtet und damit ein vorantreibendes Element ist, „nur“ sehr kurz: Wir erfahren lediglich von der bevorstehenden Beschneidung und „da ward sein Name genenmet Jesus“. Die musikalische Darstellung dieser Passage ist in der Aufnahme von St. Gallen ebenfalls aus einem Guss, indem sie die einzelnen Teile von Kantate 4 integrierend miteinander verbindet, um schließlich in den Choral einzumünden „Jesus richte mein Beginnen. Jesus bleibe stets bei mir.“

Anfang und Ende von Kantate 4, jeweils Chor- bzw. Choral-orientierte Eckposten, schließen kontemplative Varianten des Zentralthemas ein, nämlich „Jesus“. In keiner anderen Kantate des Weihnachtsoratoriums wird dieser komplexe Begriff so oft benutzt, erläutert und gleichzeitig aufgefächert. Deshalb ist hier auch, so meinen wir, der einzelne Hörer am stärksten angesprochen, eben weil sich der Zugang zu Jesus aufgrund seiner Menschwerdung am direktesten gestaltet.

Im folgenden Chor zu Beginn der Kantate 5 wird dieser Bereich konsequenterweise ausgeweitet. Wir hören: „Ehre sei dir, Gott, gesungen, Dir sei Lob und Dank bereit‘t.“ An dieser wichtigen Nahtstelle kehrt Bach in seiner Komposition zur wuchtigen Gestaltung zurück, die wir bereits von seinen Kantaten 1-3 her kennen. Der Dirigent der Aufnahme, Rudolf Lutz, vollzieht diesen Übergang ebenso souverän und überzeugend wie bisher.

Gerade aber bei diesem Teilstück des Oratoriums, und nur hier!, möchten wir uns bei der so überzeugenden Aufnahme der J.S. Bach-Stiftung ausklinken und einer anderen Version folgen, nämlich dem RIAS-Kammerchor, RIAS-Knabenchor und RIAS-Kammerorchester unter der Leitung von Karl Ristenpart. Hierbei handelt es sich um eine historische Aufnahme aus dem Jahr 1950 und befindet sich im Archiv von DeutschlandRadio Berlin.

Zusätzliche Dokumente der damaligen Zeit offenbaren den unstillbaren Wunsch nahezu aller interessierter Bürger nach jeglicher Art kultureller Darstellungen und Aufführungen. Dabei spielten natürlich auch musikalische Höhepunkte eine wesentliche Rolle. Verständlich wird dieser Hunger nach gewachsener Kultur durchaus aufgrund der unvorstellbaren Gräuel und Entbehrungen des gerade erst beendeten Zweiten Weltkriegs.

Bachs Chor „Ehre sei dir, Gott, gesungen“ hätte demnach, so wird uns angedeutet, sowohl für die ausführenden Solisten wie auch für die anwesenden Hörer, sozusagen ein psychologischer Befreiungsschlag sein können. Das mag durchaus der Fall wie auch legitim gewesen sein. Dennoch möchten wir uns im vorgegebenen Zusammenhang eher auf den Partitur-gestützten Nachvollzug der Solisten und seines Dirigenten konzentrieren. Für uns ist diese höchst transparente und vielschichtige und bis ins Detail engagierte Interpretation von „Ehre sei dir, Gott, gesungen“ unter Ristenpart das Nonplusultra.

Dieser kurze Exkurs soll aber, wie schon zuvor erwähnt, nicht im Geringsten die hohen Verdienste und Vorteile der Einspielung des Weihnachtsoratoriums durch die J.S.Bach-Stiftung schmälern. ---- Weitere Hinweise: Kantaten 1-6 Mit: E. Bill (Alt), D. Johannsen (Tenor), S. Macleod (Bass), L. Andres (Sopran), M. Oizinger (Alt), D. Perez (Bass), M. Mauch (Sopran), T. Wey (Altus), D. Wörner (Bass), M. Feuersinger (Sopran), T. Wicky (Bass), M.L. Werneburg (Sopran), M. Helm (Bass), R. Hughes (Sopran), A. Rawohl (Alt), Chor und Orchester der J.S.Bach-Stiftung St. Gallen, Ltg. Rudolf Lutz.

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